Psychoanalyse
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Übersicht

Einleitung

Das Unbewußte

Die Freudsche Triebtheorie

Die Freudsche Traumtheorie

Die Instanzenlehre: Es, Ich und Über-Ich

Klassische psychoanalytische Entwicklungslehre

Moraltheorie und Frauenbild Freuds

Psychoanalytische Therapie

Kritik an der Psychoanalyse

Psychoanalyse und Psychologie

Modifikationen der klassischen Psychoanalyse

Literaturhinweise

 

Einleitung

Die Psychoanalyse ist eine von dem Wiener Nervenarzt Sigmund Freud (1856-1939) entwickelte Lehre des menschlichen “Seelenlebens”, die als Basis für das bekannteste Psychotherapieverfahren der Welt dient. Ausgangspunkt für die Entstehung der Psychoanalyse waren Freuds Gespräche mit einigen wenigen als neurotisch bezeichneten Patientinnen und Patienten, vorwiegend aus der Oberschicht, im Wien des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Diese als “klinisch” bezeichnete Forschungsmethode ist bis heute das Hauptfundament der Psychoanalyse. Auf ihrer Grundlage entstanden die klassischen psychoanalytischen Theorien über

die im Folgenden kurz vorgestellt werden.

Das Unbewußte

Ein zentrales Konzept der Freudschen Auffassung vom “Seelenleben” ist die Einteilung desselben in drei Bewußtseinszustände (topographisches Modell): bewußt - vorbewußt - unbewußt. Während Freud Inhalte des “Seelenlebens”, die einer Person in einem Moment bekannt sind, als “bewußt” bezeichnet, postuliert er daneben Inhalte, die ihr nicht bekannt sind. Von diesen unbekannten, nicht bewußten Inhalten (seelische Vorstellungen oder Affekte genannt) können einige bewußt werden. Diese nennt er “vorbewußt”. Andere dagegen sind “an sich und ohne weiteres” nicht bewußtseinsfähig und werden “unbewußt” genannt. Vor allem im sogenannten “System Unbewußtes (Ubw)” sah Freud wichtige, wenn nicht die wichtigsten Determinanten menschlichen Verhaltens und Erlebens angesiedelt, die Triebe.

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Die Freudsche Triebtheorie

Für Freud ist menschliches Verhalten und Erleben vollständig durch die Vorgänge im “Seelenleben” determiniert. Zufälle in Verhalten und Erleben gibt es für ihn nicht. Daher spielen das Sich-Versprechen, das Sich-Verlesen oder das Sich-Verhören als Beispiele für sogenannte Freudsche “Fehlleistungen” eine oft zitierte Rolle, weil sie für Freudianer immer auf Inhalte des “Seelenlebens” hinweisen. Welche Inhalte in Verhalten umgesetzt werden, bestimmt sich nach der Intensität sowie dem Zusammenspiel und Gegensatz von Trieben.   Triebe sind nach Freud die Kräfte des Seelenslebens, die aus biologischen Quellen des Körpers eines Menschen stammen und mit diesen Quellen eng verknüpft sind. So ist der für Freud wichtigste Trieb, der Sexualtrieb (Libido), z.B. an bestimmte erogene  Zonen genannte Körperpartien gebunden. Entgegen dieser engen Verbindung zum Körper sind die Triebe bezogen auf das Seelenleben unspezifisch und können sich praktisch an jede unbewußte seelische Vorstellung anhängen, wodurch diese die notwendige psychische Energie erhält, um bewußt zu werden und sich in Verhalten umzusetzen. Damit ist das Ziel des Triebs erreicht: die Triebabfuhr, die als lustvoll erlebt wird. Solche psychischen Prozesse, die ohne Rücksicht auf die Außenwelt des Menschen nach Triebabfuhr streben, unterliegen nach Freud dem Lustprinzip. Da allerdings ein ausschließliches Verhalten nach diesem Prinzip zu Konflikten mit der Außenwelt führt, entsteht im Lauf der menschlichen Entwicklung das zweite wichtige Prinzip, nach dem sich das Verhalten richtet: das Realitätsprinzip, das Triebabfuhr nur in Übereinstimmung mit den Anforderungen der Umwelt gestattet. Aus dem Gegensatz zwischen Realitäts- und Lustprinzip entstehen Triebkonflikte, da einigen seelischen Vorstellungen, an die sich bestimmte Triebe gebunden haben, das Bewußtwerden und damit die Ermöglichung von Triebabfuhr durch andere Triebe verwehrt wird. Die Verweigerung des Zugangs zum Bewußtsein wird als Abwehr und ihre Methoden als Abwehrmechanismen bezeichnet. Den wohl bekanntesten Abwehrmechanismus stellt die Verdrängung dar. Freud sieht in den z.B. durch die Verdrängung nicht gelösten Triebkonflikten die Ursache einer Reihe von psychischen Störungen, die er Psychoneurosen nannte: Hysterie, Zwangsneurose, Phobie.

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Die Freudsche Traumtheorie

Als seine wichtigste Leistung sah Freud seine Arbeiten über den Traum und die Traumdeutung an. Für ihn ist der Traum ein psychischer Zustand, in dem sich entstellte Inhalte aus dem Unbewußten zeigen und der daher einen direkten Zugang in diese Spähre des Psychischen ermöglicht, weshalb Freud ihn als “Königsweg zum Unbewußten” bezeichnete. Freud versteht den Traum in erster Linie als Ausdrucksmöglichkeit für unbewußte Wünsche und Triebkonflikte, ohne daß der Schlaf gestört wird. Er spricht daher vom Traum als Hüter des Schlafs. Auch die dieser Vermutung widersprechenden Angst- und Schlafträume ordnet er dieser Wunscherfüllungstheorie unter. Nach Freud entstehen Träume aus mehreren Ursachen: körperliche Reizquellen, Erlebnisse des vergangenen Tages (Tagesreste) und - für ihm am wesentlichsten -  unbewußte Konflikte. Aus diesen Quellen entstehe im Unbewußten durch den Primärvorgang der manifeste Trauminhalt. Dabei werden durch Verdichtung und Verschiebung mehrere seelische Vorstellungen, die den eigentlichen, aber verborgenen Sinn (latenter Trauminhalt ) des Traums darstellen, miteinander kombiniert und ausgetauscht, so daß u.a. im Traum vorkommende Personen für andere Personen stehen können. Des weiteren sieht Freud im Trauminhalt eine Symbolik verwirklicht, die sich allerdings auf einen recht engen Bereich begrenzt, zu dem v.a. die Sexualität gehört. Auf den Primärvorgang erfolgt eine sekundäre Bearbeitung des Traumes, wodurch seine Inhalte eine gewisse Ordnung erhalten, die an die Gegebenheiten während des Wachseins angelehnt sind. Damit der Trauminhalt möglichst wenig von unbewußten Konflikten verrät, wird er von der Traumzensur weiter entstellt. Nach all diesen Prozessen, die Freud unter dem Begriff Traumarbeit zusammenfaßt, liegt ein überdeterminierter Traum vor, der das Ergebniss von Wunscherfüllung, Traumzensur, aktuellen und kindlichen unbewußten Konflikten darstellt und aufgrund der Verdichtung mehrere latente seelische Vorstellungen enthält.

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Die Instanzenlehre: Es, Ich und Über-Ich

Nach dem 1. Weltkrieg erweiterte Freud seine psychoanalytische Theorie durch das sogenannte Instanzenmodell. Dieses Modell zeichnet sich durch eine Dreiteilung des “Seelenlebens” in Es, Ich und Über-Ich aus.

Das Es ist der älteste und vollkommen unbewußte Teil des Seelenlebens: “Sein Inhalt ist alles, was ererbt, bei Geburt mitgebracht, konstitutionell festgelegt ist, vor allem also die aus der Körperorganisation stammenden Triebe” (Freud, 1938). Die Triebe und seelischen Vorstellungen unterliegen im Es dem Lustprinzip und verhalten sich alogisch, zeitlos und trotzdem widerspruchsfrei.

Im Laufe der Entwicklung des Kindes bildet sich das Ich als der Teil des “Seelenlebens” heraus, der im Kontakt mit der Außenwelt steht und das Verhalten direkt steuert. Ein Teil des Ich ist bewußt, ein anderer  vorbewußt, ein dritter unbewußt (darunter fallen die Abwehrmechanismen). Dem Ich kommt die Aufgabe zu, zwischen den Ansprüchen der Außenwelt und denen des Es zu vermitteln, um eine geeignete Form der Triebabfuhr zu erreichen.. Dabei unterliegt es dem Realitätsprinzip.

Noch später in der Entwicklung entsteht das Über-Ich als Sitz des Gewissens und des Ich-Ideals einer Person. Es entsteht aus der Übernahme der Moralvorstellungen und Normsetzungen der Eltern während der Zeit des Ödipuskomplexes (siehe unten: phallische Phase).

Mit den Instanzen sind Gruppen von Trieben (Es-Triebe, Ich-Triebe) verbunden, die unterschiedliche Ziele verfolgen, woraus sich immer neue Triebkonflikte speisen. Es und Über-Ich sollen in der Vorstellung der Freudianer beide um die Kontrolle über das Ich und damit die Umsetzung ihrer Ziele in das Verhalten kämpfen. Das Ich wiederum versucht zwischen den Ansprüchen des Über-Ich bzw. Es auf der einen sowie der Außenwelt auf der anderen Seite zu vermitteln.

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Klassische psychoanalytische Entwicklungslehre

Für Freud war die Entwicklung des Menschen von seiner Geburt bis ins Erwachsenenalter der wichtigste Entwicklungsabschnitt, der sowohl für die Persönlichkeit als auch eventuelle psychische Störungen ursächlich verantwortlich war. Diese Entwicklung verläuft nach Freud in mehreren Phasen:

  • In der oralen Phase (bis ein Jahr) gelingt dem Kind die Triebbefriedigung durch den Mund und mit ihm verbundenes Verhalten: Saugen, Lutschen, Schlucken, später Beißen, zunächst an der Mutterbrust als Triebobjekt, später auch an der Flasche, dem Schnuller oder dem Daumen. Wenn dem Kind die Triebbefriedigung versagt wird (Frustration) durch z.B. die Art der Entwöhnung (Abstillen), so hat dies nach psychoanalytischer Auffassung lebenslängliche Folgen, wie z.B. eine spätere eher optimistische oder pessimistische Lebensgrundhaltung. Mund und Lippen bilden nach Freud in diesem Alter die erogenen Zonen, was sich in späteren Jahren in den Verhaltensweisen der Lust am Essen, Trinken, Rauchen, Küssen oder Oralsex niederschlägt.
  • Vom ersten bis zum dritten Lebensjahr befindet sich das Kind in der analen Phase. Diese ist gekennzeichnet durch das Erlernen der Kontrolle über die Schließmuskeln und von Sauberkeit. Dies wird für das Kind eine Quelle von Lustgewinn: Für sein hygienisches Verhalten erhält das Kind Zuwendung und Lob, die jedoch dadurch gemindert wird, daß es nicht mit seinen Exkrementen spielen darf. Zugleich erlernt das Kind, daß es durch sein hygienisches Verhalten die soziale Umwelt manipulieren kann, so daß es eine Art des Widerstandes gegen die Forderung der Eltern (Trotz) in der Hand hat. Durch die Möglichkeit, seine Aggressionen ausdrücken, spricht Freud von der anal-sadistischen Phase. Auf diese Phase sollen beim Erwachsenen Tendenzen zu Ordnung und Sauberkeit, aber auch durch symbolische Übertragung von Geben und Nehmen zu Verhaltensweisen wie Großzügigkeit oder Sparsamkeit und Geiz zurückzuführen sein.
  • In der phallischen Phase (drei bis sechs Jahre) entdeckt das Kind den Lustgewinn durch die Stimulation von Penis und Klitoris. Es entwickelt sich ein Bewußtsein der Geschlechtsunterschiede, wodurch sich der Lustgewinn auf das andere Geschlecht richtet, v.a. auf den gegengeschlechtlichen Elternteil. Da der Zugang zu diesem durch den gleichgeschlechtlichen Teil verwehrt ist, empfindet das Kind ihn als Rivalen, der das Kind mit Bestrafung seiner Wünsche bedroht: Beim Jungen kommt es zur Kastrationsangst , beim Mädchen zum Penisneid, da es keinen Penis hat (auch weil es sich vorstellt, seinen Penis verloren zu haben). Diese Situation faßt Freud unter dem Begriff des Ödipuskomplex zusammen, der aufgelöst werden kann, indem sich das Kind mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil identifiziert, dessen Wertesystem übernimmt und das Über-Ich entsteht. Eine mangelhafte Überwindung des Ödipuskomplexes ist für Freud eine Quelle für die Entstehung späterer Neurosen.
  • In der Latenzphase von 6 bis 11 Jahren soll das sexuelle Interesse scheinbar verschwinden und die dem Sexualtrieb innewohnende Energie durch Sublimierung auf intellektuelle und kulturelle Gebiete gelenkt werden. In dieser Zeit entsteht nach Freud auch die Inzestschranke, d.h. die Ausrichtung der Libido auf nichtverwandte Menschen.
  • Ab dem elften Lebensjahr befindet sich der Mensch in der genitalen Phase, in der er mit dem Wiedererwachen des Sexualtriebes konfrontiert ist. Der Trieb richtet sich wegen der Inzestschranke nun auf Menschen außerhalb der Familie und zwar auf Personen mit Merkmalen familiärer Mitglieder.

zur Kritik an der klassischen psychoanalytischen Entwicklungslehre

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Moraltheorie und Frauenbild Freuds

Freuds Instanzenlehre zufolge übernimmt das Über-Ich u.a. die Funktion dessen, was üblicherweise als Gewissen bezeichnet wird. Das Über-Ich stellt insofern ein Konstrukt dar, das sich auf die Moral des Menschen bezieht. Laut Freud entwickeln sich Moral und Gewissen zum Ende der phallischen Phase mit 5 bis 6 Jahren. Die Entstehung des Über-Ich soll aus der Überwindung des Ödipuskomplex heraus geschehen und eng mit der Übernahme der Geschlechtsrolle (Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil) zusammenhängen. Danach ist Freud zufolge die Entwicklung des Gewissens abgeschlossen.

Freud behauptete aufgrund der von ihm angenommenen anderen Entstehung und Entwicklung des Ödipuskomplexes und seiner Bewältigung bei Mädchen, daß Frauen im allgemeinen ein schwächeres Über-Ich hätten und deshalb unmoralischer als Männer seien. Freud schreibt dazu in seiner Vorlesung Die Weiblichkeit in der Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse:

Die Bildung des Über-Ich [des Mädchens] muß unter diesen Verhältnissen leiden, es kann nicht die Stärke und Unabhängigkeit erreichen, die ihm seine kulturelle Bedeutung verleihen; und Feministinnen hören es nicht gerne, wenn man auf die Auswirkungen dieses Moments für den durchschnittlichen weiblichen Charakter hinweist.

Zudem sind Frauen Freud zufolge neidischer als Männer, sozial weniger interessiert und weniger fähig, die sexuelle Triebenergie namens Libido in kulturell wertvolle Tätigkeiten fließen zu lassen. Dazu Freud in der oben genannten Vorlesung:

Wir sagen auch von den Frauen aus, daß ihre sozialen Interessen schwächer und ihre Fähigkeit zur Triebsublimierung geringer sind als die der Männer. [...] Ein Mann um die Dreißig erscheint als ein jugendliches, eher unfertiges Individuum, von dem wir erwarten, daß es die Möglichkeiten der Entwicklung, die ihm die Analyse eröffnet, kräftig ausnützen wird. Eine Frau um die gleiche Lebenszeit erschreckt uns häufig durch ihre psychische Starrheit und Unveränderlichkeit. Ihre Libido hat eindeutige Position eingenommen und scheint unfähig, sie gegen andere zu verlassen. Wege zu weiterer Entwicklung ergeben sich nicht; es ist [...] als hätte die schwierige Entwicklung zur Weiblichkeit die Möglichkeiten der Person erschöpft.

Freud zufolge sind Frauen ab dem 30. Lebensjahr also psychisch starr und unveränderlich, eine weitere Persönlichkeitsentwicklung der Frau sei unmöglich und der Freudianer werde die Möglichkeiten der Psychoanalyse bei Frauen als nicht besonders hocheinschätzen.

zur Kritik an der Freudschen Moraltheorie

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Psychoanalytische Therapie

Wie bereits in der Einleitung beschrieben, entstanden die psychoanalytischen Theorien nicht unabhängig von den Behandlungsversuchen Freuds und seiner wenigen Mitstreiter. Im Gegenteil sind Therapie und Forschung nach Freud untrennbar miteinander verbunden. Deshalb entwickelten sich psychoanalytische Theorie und psychoanalytische Therapie in engem Verbund. Die psychoanalytische Therapie beruht auf folgender theoretischer Überlegung:

    FREUD -  und mit ihm eine große Zahl der Psychoanalytiker bis heute - hielt und hält die Psychoanalyse für die kausale Therapie der Neurosen, was auf folgendem Theorem beruht: Notwendige Voraussetzung neurotischer Symptome ist die Unbewußtheit eines Konflikts, dessen Abkömmlinge, als getarnt-pantomimischer Ausdruck (= Konversion), als magisches Ungeschehen-Machen (= Zwangssymptome), als Affekt-Äquivalent (z.B. Erröten) usw. zu dem oder den Symptomen werden” (Meyer, 1996).

Aufgrund dieser theoretischen Annahme besteht nach Freud nur dann Erfolg auf eine dauerhafte Beseitigung der Symptome, wenn der unbewußte Konflikt in der psychoanalytischen Therapie bewußt gemacht wird:

    “Durch Bewußtmachung dieses Konflikts - und genau dieses mußte der Psychoanalytiker mit seinen Deutungen erreichen - entfiel diese notwendige Voraussetzung, wodurch das oder die Symptome schwanden” (Meyer, 1996).

Andere Therapieversuche müssen demnach scheitern, weil sie nicht die unbewußten Konflikte dem Bewußtsein zuführen und damit auflösen, und nur Symptomverschiebungen produzieren, bei denen ein Symptom für den unbewußten Konflikt durch ein anderes abgelöst wird.

Das Bewußtmachen des unbewußten Konfliktes geschieht in der Psychoanalyse nach neuerer Auffassung, indem

  • eine enge Beziehung zum Therapeuten aufgebaut wird, wodurch es zu
  • neuen emotionalen Erfahrungen kommt, die
  • Deutung und Einsicht in alte Beziehungsmuster und zwischenmenschlicher Erlebnisse und das
  • Wiedererleben früher, kindlicher Beziehungen mit Abhängigkeitscharakter ermöglichen
  • begünstigt durch Nicht-Erfüllen von Wünschen, Schweigen, Nicht-Beantworten von Fragen des Patienten durch den Analytiker.

Dabei werden Techniken wie die freie Assoziation und das Deuten von Träumen angewendet, die Freud für den Königsweg zum Unbewußten und als seine größte Leistung betrachtete.

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Kritik an der Psychoanalyse

An der Psychoanalyse ist unablässig und heftig Kritik geübt worden, die sich vier Leitsätzen unterordnen läßt:

  1. Die Psychoanalyse ist eine Pseudowissenschaft.
  2. Die psychoanalytischen Theorien sind falsch.
  3. Die psychoanalytische Therapie ist ineffizient.
  4. Die psychoanalytische Forschungsmethodik ist ungeeignet, die psychoanalytischen Theorien zu überprüfen.

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I. Die Psychoanalyse ist eine Pseudowissenschaft

Von wissenschaftsphilosophischer und -theoretischer Seite wird gegen die Psychoanalyse eingewendet, daß sie keine Wissenschaft darstelle, sondern sich nur als Wissenschaft ausgebe. Ein bedeutender Vertreter dieses Kritikpunktes war der Wissenschaftsphilosoph Sir Karl R. Popper, der anhand der Theorien von Marx, Freud und Freuds Schüler Alfred Adler, dem Begründer der psychoanalytischen Individualpsychologie, sein wissenschaftstheoretisches Falsifikationsprinzip entwickelte. Für Popper sind Theorien nur dann wissenschaftlich, wenn sie grundsätzlich widerlegbar sind. Über die Theorien von Freud und Adler schreibt er dagegen:

    “Die beiden psychoanalytischen Theorien [von Freud und seinem Schüler Alfred Adler] waren von ganz anderer Art. Sie waren einfach nicht nachprüfbar, nicht widerlegbar. Es gab kein denkbares menschliches Verhalten, das ihnen widersprechen konnte. Das bedeutet nicht, daß Freud und Adler nicht bestimmte Dinge richtig sagen. Ich persönlich zweifle nicht daran, daß vieles von dem, was sie sagen, von erheblicher Bedeutung ist und eines Tages in einer psychologischen Wissenschaft, die nachprüfbar ist, durchaus eine Rolle spielen könnte. Es bedeutet aber, daß diese ‘klinischen Beobachtungen’, von denen die Analytiker naiv glauben, daß sie ihre Theorie bestätigen, dies nicht besser können als die tägliche Bestätigung, die Astrologen in ihrer Praxis finden. Und was nun Freuds Epos vom Ich, vom Über-Ich und vom Es betrifft, so kann dafür substantiell kein stärkerer Anspruch erhoben werden als für Homers gesammelte Geschichten vom Olymp. Sie enthalten höchst interessante psychologische Hinweise, aber nicht in wissenschaftlich nachprüfbarer Form” (Popper, K. R. [1972]. Science: Conjectures and Refutations).

Ein anderer bedeutender Wissenschaftsphilosoph, Thomas S. Kuhn, stimmt Popper in dieser Auffassung zu:

    Bei der Untersuchung der schwierigen, strittigen Fälle, zum Beispiel der Psychoanalyse oder der marxistischen Geschichtsphilosophie, für die Karl Popper sein Kriterium nach seiner eigenen Aussage ursprünglich entworfen hat, stimme ich zu, daß diese heute nicht wirklich als ‘Wissenschaft’ bezeichnet werden können.”

B.A. Farrell stellt die Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse ebenfalls in Abrede:

    “Können wir sagen, daß die psychoanalytische Theorie eine wissenschaftliche Theorie ist - daß sie wissenschaftliche Kenntnisse verkörpert? Nein, es ist entweder einfach falsch oder äußerst irreführend, dies zu behaupten.”

Als Gründe gibt Farrell die Zweifelhaftigkeit der psychoanalytischen, “klinischen” Forschungsmethode an und, daß die Theorien “weder logisch noch empirisch hinreichend definiert” ist.

Cioffi (1970) weist der Psychoanalyse den Status einer Pseudowissenschaft zu, weil sie ihre hohen theoretischen Ansprüche nicht erfüllen kann und sich ihrer Widerlegung durch allerlei Tricks zu entziehen versucht:

    “Es ist charakteristisch für eine Pseudowissenschaft, daß die sie bildenden Hypothesen in einer asymmetrischen Beziehung zu den von ihnen erzeugten Erwartungen stehen, daß sie sie zwar leiten und durch ihre Erfüllung gerechtfertigt werden, daß sie aber durch ihre Nichterfüllung nicht diskreditiert werden. Ein Weg, auf dem sie es fertigbringt, ihre Hypothesen vor dem Resultat eng und präzise auszulegen, sie aber hinterher bei den Gelegenheiten, bei denen sie sich nicht bewährt haben, viel allgemeiner und verschwommener zu interpretieren. So führen solche Hypothesen ein Doppelleben: ein untergeordnetes und zurückhaltendes beim Vorliegen widersprechender Beobachtungen, und ein anderes, weniger gehemmtes und überschwenglicheres, wenn das nicht der Fall ist.”

Er stellt anschließend mehrere Beispiele vor, die zeigen sollen, daß Freuds Psychoanalyse genau diesem Muster folgt, z.B. daß

    “Freud dann, wenn er gezwungen ist, sich mit widersprechenden Berichten auseinanderzusetzen, den so leicht zu bestätigenden Charakter seiner Rekonstruktionen des kindlichen Lebens vergißt und ihren esoterischen, nur von Eingeweihten zu beobachtenden Charakter betont”,

so wenn man Freuds Behauptungen in seiner Arbeit “Die Widerstände gegen die Psychoanalyse” und in seinem Vorwort zur 4. Auflage seiner “Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie” miteinander vergleicht:

    “In diesem Lebensabschnitt laufen diese Impulse noch ungehemmt weiter als direkte sexuelle Wünsche. Dies kann so leicht bestätigt werden, daß nur größte Anstrengungen es ermöglichen würden, es zu übersehen” (Freud, S. [1925]. Die Widerstände gegen die Psychoanalyse. Gesammelte Werke. Band 14)

aber

    “Niemand, außer Ärzten, die Psychoanalyse praktizieren, kann überhaupt Zugang zu dieser Wissenssphäre oder irgendeine Möglichkeit zur Bildung eines Urteils haben, das von eigenen Abneigungen und Vorurteilen unbeeinflußt ist. Wenn die Menschheit fähig gewesen wäre, aus der direkten Beobachtung von Kindern zu lernen, dann hätten diese drei Essays ungeschrieben bleiben können” (Freud, S. Vorwort zur 4. Auflage der “Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie”).

Cioffi (1970) merkt dazu an, daß

    “dieser Rückzug auf das esoterisch Beobachtbare angesichts widersprechender Befunde ein allgemeines Charakteristikum der psychoanalytischen Apologetik [d.h. Rechtfertigung] ist.”

Freud selbst schrieb einmal an seinen langjährigen Freund, den Berliner Hals-, Nasen- und Ohrenarzt Wilhelm Fließ:

    "Ich bin nämlich gar kein Mann der Wissenschaft, kein Beobachter, kein Experimentator, kein Denker. Ich bin nichts als ein Conquistadorentemperament, ein Abenteurer, wenn Du es übersetzt willst, mit der Neugierde, der Kühnheit und der Zähigkeit eines solchen” (Sigmund Freud, Brief an Wilhelm Fließ, 1. Februar 1900).

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II. Die psychoanalytischen Theorien sind falsch

Obwohl man - anscheinend Popper folgend - annehmen könnte, daß die psychoanalytischen Theorien nicht widerlegbar seien und daher gar nicht als richtig oder falsch bezeichnet werden könnten, übersähe man dann, daß die psychoanalytische Lehre auf zwei Ebenen angesiedelt ist. Auf der oberen Ebene befinden sich die allgemeinen psychoanalytischen Theorien wie das Konzept des “Unbewußten”, die Freudsche Triebtheorie und die Instanzenlehre. Diese Theorien, die Freud als Metapsychologie bezeichnete, unterliegen dem Vorwurf Poppers, nicht widerlegbar und damit unwissenschaftlich zu sein. Dagegen sind die psychoanalytischen Theorien, die stärker mit dem Verhalten des Menschen verknüpft sind und die untere Ebene der Lehre bilden, sehr wohl überprüf- und widerlegbar. Wie sich oft herausgestellt hat, sind sie in vielen Punkten unzutreffend und schlicht falsch.

Beispielhaft soll eine Bewertung der psychoanalytischen Entwicklungslehre zitiert werden:

    Empirische Untersuchungen erbrachten nur selten Belege für die Annahme einer universellen Gültigkeit der psychosexuellen Entwicklungsphasen und für die postulierten Zusammenhänge zwischen dem Durchlaufen der einzelnen Phasen und der Herausbildung bestimmter Persönlichkeitszüge (vgl. die Zusammenstellungen von ZIGLER & CHILD, 1969; sowie FISHER & GREENBERG, 1985; KLINE, 1972). Aus den Ergebnissen kulturvergleichender Studien geht außerdem hervor, daß den kulturspezifischen Familienkonstellationen und den jeweils vorherrschenden kulturellen Erziehungseinstellungen und -Praktiken größere Bedeutung für den Ablauf der Entwicklung zukommt als überkulturell präformierten Prozessen der Libidoentfaltung (BENEDICT, 1938; KLUCKHOHN, MURRAY & SCHNEIDER, 1953)”

und

    “Für die von der Psychoanalyse angenommene Dominanz sexueller Impulse gegenüber anderen Strebungen des Kleinkindes (z.B. Neugier gegenber den Dingen der Umwelt, Bedrfnis nach sozialer Zuwendung und Interaktion, Leistungsmotivation) gibt es keine überzeugenden empirischen Belege. Sogar bei der Übernahme der Geschlechtsrolle scheinen sexuelle Aspekte eher von untergeordneter Bedeutung zu sein (vgl. hierzu Kap. 12). Die von FREUD aus den sexuellen Phantasien erwachsener Patienten abgeleiteten Hypothesen über die kindliche Sexualität dürften sehr stark zeitgebunden sein und sind nur aus der damaligen eher strengen Sexualmoral verständlich” (Trautner, 1997, S. 93/94).

Auch die Traumtheorie Freuds wird aus Sicht der modernen Neurowissenschaften als falsch angesehen:

    “Freuds Wunscherfüllungstheorie erwies sich als nicht zutreffend, ebenso seine Spekulationen über die symbolische Bedeutung von Träumen. Wir haben gesehen, daß REM-Deprivation zu keinerlei Erhöhung der Antriebsbereitschaft für sexuelle oder andere Triebregungen führte. Wünsche sind als Trauminhalte äußerst selten, in der Regel dominieren Ereignisse des vergangenen Tages. Trotz dieser Situation stellt die Traumdeutung nach wie vor eine wichtige Stütze der psychoanalytischen Behandlung dar, die sich, wie auch die übrigen Leitsätze dieses gedanklichen Spekulationsgebäudes, nicht mit den Ergebnissen neurobiologischer Forschung in Einklang bringen lassen. Die nun schon fast ein Jahrhundert dauernde Ignoranz der psychoanalytischen 'Schulen' gegenüber den Ergebnissen der experimentellen Psychologie und Physiologie steht in der Geschichte der Humanwissenschaften beispiellos da” (Birbaumer, N. & Schmidt, R.F. [1996]. Biologische Psychologie. Berlin: Julius Springer).

    “Bis heute werden Traumdeutungsversuche von der akademischen Psychologie kritisch gesehen und können in ihrer Validität [d.h. Gültigkeit] empirisch nicht hinreichend belegt werden. Speziell Freuds Annahmen zum Traum erfuhren vielfältige Kritik: Seine Wunscherfüllungsthese konnte empirisch nicht belegt werden; vgl. Foulkes (1969); auch scheint der Traum nicht der Hüter des Schlafes zu sein, da das Erwachen häufiger aus dem REM-Schlaf als aus dem Tiefschlaf erfolgt, auch scheinen Angst- und Schlafträume nicht Ausnahmen, sondern sehr häufig zu sein; auch die bei Männern mit dem Traum einhergehenden Erektionen lassen sich zwanglos nicht als sexuelle Erregung, sondern als allgemein erhöhte vegetative Erregung deuten, die auch die Verdauung und den Herzschlag umfaßt. Träumen wird als ein weitgehend ‘sinnloser’ physiologischer Prozeß betrachtet, bei dem größtenteils zufällige Entladungen des Hirnstamms von anderen Teilen des Gehirns aufgenommen und zu einem ‘pseudosinnvollen’ Ganzen verarbeitet werden” (Städtler, T. [2003]. Lexikon der Psychologie. Stuttgart: Kröner).

Gegen Freuds Moraltheorie und Frauenbild läßt sich anführen, daß die Kernkonzepte dieser Theorie (z.B. Ödipuskomplex, Überich-Stärke) empirisch nur sehr schwer überprüfbar sind. Es gibt kaum die Theorie stützende Befunde, es sei denn, man beruft sich auf die unsystematischen Beobachtungen an erwachsenen Patienten, z.B. auf deren Träume. Die speziellere Kritik richtet sich auf die Vorstellung eines relativ starren und mit etwa sechs Jahren bereits endgültig fixierten Gewissens. Kinder sind im Gegensatz zu Freuds Meinung in diesem Alter noch nicht moralisch reif und ihre Urteilsfähigkeit entwickelt sich bis ins Erwachsenenalter hinein. Das gilt auch für Empathie und moralisches Verhalten. Ein weiterer Schwachpunkt der Freudschen Theorie ist, daß sie nicht erklären kann, wie sich ein voll entwickeltes Gewissen aus einer seit ihrer Entstehung unbewußten Struktur wie dem Über-Ich bilden kann. Problematisch ist außerdem die Betonung der Internalisierung von elterlicher Strenge und Härte und die Vernachlässigung von Liebe, Fürsorge und Empathie, von denen man annehmen kann, daß Eltern diese ebenfalls aufweisen sollten, und die sich laut empirischen Befunden eher und allgemeiner für eine Identifikation eignen als Strenge und Härte. Zum Schluß kann festgehalten werden, daß die von Freud angenommenen Geschlechtsunterschiede sich in empirischen Studien nicht bestätigen ließen.

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III. Die psychoanalytische Therapie ist ineffizient

Im Abschnitt zur psychoanalytischen Therapie wurde auf die Behauptung der Psychoanalyse hingewiesen, daß nur die Bewußtmachung des unbewußten Konfliktes, der die Ursache für die Symptome darstellt, dauerhaften Erfolg bei der Beseitigung der psychischen Störungen verspreche. Dazu merkt Meyer (1996) an:

    “Mit diesem «Übereinstimmungsargument» im Junktim mit der therapeutischen Überlegenheit hatte FREUD ein logisch stringentes Argument, welches seine Theorie und Therapie gleichzeitig und ineins validierte. Allein und leider, dieses hält der empirischen Überprüfung nicht stand. In allen größeren Metaanalysen von Therapieergebnissen (SMITH et al., 1980; WITTMANN u. MATT, 1986; GRAWE et al., 1994) schneidet die Psychoanalyse nicht - weil als einzige kausal - als überlegener Sieger ab, sondern auf dem 3. oder 4., selten auf dem 2. Platz.”

Auch die Behauptung der Psychoanalyse, daß andere Therapieversuche bei psychischen Störungen keinen dauerhaften Erfolg bringen, sondern nur Symptomverschiebungen produzieren, hält der empirischen Überprüfung nicht stand und kann heute als widerlegt angesehen werden. In Bezug auf verhaltenstherapeutische Konfrontationsbehandlungen von Phobien heißt es dazu deshalb:

    “Die Effektivität von Konfrontationsverfahren in der Therapie von Agoraphobikern wurde mit Katamnesen von bis zu neun Jahren vielfach belegt (z.B. Hand et al., 1974; Mathews et al., 1977; Emmelkamp & Kuipers, 1979; Chambless & Goldstein, 1980, vgl. Goldstein, 1982; McPherson et al., 1980; Munby & Johnston, 1980; Michelson et al., 1985; Hand et al., 1986; Burns et al., 1986; Fiegenbaum,1988; Übersichten bei Clum, 1989; O’Sullivan &Marks, 1990; Michelson & Marchione, 1991). Die Katamnesen zeigen, daß einmal erzielte Erfolge auch über lange Zeitrume im Durchschnitt stabil bleiben und Rückfälle selten sind. Nach den Übersichten von O’Sullivan und Marks (1990) und Michelson und Marchione (1991) kann man davon ausgehen, daß zwischen 60% und 76% der behandelten Patienten langfristig klinisch bedeutsame Verbesserungen zeigen. Besonders gute Erfolge berichtet Fiegenbaum (1988).Von 104 behandelten Agoraphobikern waren 78% noch 5 Jahre nach Ende einer sehr intensiven Reizberflutung völlig beschwerdefrei. Das Auftreten neuer Symptome („Symptomverschiebung“) ist nach erfolgreichen Konfrontationstherapien nicht häufiger als in der Allgemeinbevölkerung (Literaturbersichten bei Mathews et al., 1981; Marks, 1987a)” (Ehlers & Margraf, 1998).

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IV. Die psychoanalytische Forschungsmethode ist ungeeignet, die psychoanalytischen Theorien zu überprüfen

Von psychoanalytischer Seite wird gegen die Kritik, ihre Theorien seien widerlegt und ihre Therapie nicht effizient, eingewendet, daß die Psychoanalyse nicht am szientistischen Ideal einer an den Naturwissenschaften orientierten Wissenschaft gemessen werden dürfe, sondern eine eigenständige Form darstelle, Wissenschaft zu betreiben, und daher auch eine eigene Forschungsmethodik mit sich bringe, um die eigenen Theorien zu überprüfen. Darauf läßt sich zuerst entgegnen, daß die psychoanalytische Forschungsmethodik mit der psychoanalytischen Therapie untrennbar verbunden ist, wie Freud selbst schrieb:

    “In der Psychoanalyse bestand von Anfang an ein Junktim zwischen Heilen und Forschen, die Erkenntnis brachte den Erfolg, man konnte nicht behandeln, ohne etwas Neues zu erfahren, man gewann keine Aufklärung, ohne ihre wohltätige Wirkung zu erleben. Unser analytisches Verfahren ist das Einzige, bei dem dies kostbare Zusammentreffen gewahrt bleibt. Nur wenn wir analytische Seelsorge betreiben, vertiefen wir unsere eben dämmernde Einsicht in das menschliche Seelenleben. Diese Aussicht auf wissenschaftlichen Gewinn war der vornehmste, erfreulichste Zug der analytischen Arbeit” (Freud, S. [1927]. Nachwort zur Frage der Laienanalyse. Gesammelte Werke. Band 14. S. 293).

Durch dieses Junktim von “Heilen und Forschen”, das Freud so positiv hervorhebt, wird allerdings das Argument, die von den Methoden der empirisch-objektiven Wissenschaften unterschiedliche psychoanalytische Forschunsmethode sei geeignet, die psychoanalytischen Theorien zu überprüfen, unhaltbar, da in der Therapie auf Grundlage der Theorie gehandelt und damit genau die Realität geschaffen wird, die es doch kritisch zu überprüfen gilt:

    “In Sitzungen, wo man sich von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzt, wirkt der Gesichtsausdruck des Therapeuten, ein fragender Blick, ein Heben der Augenbrauen, ein kaum wahrnehmbares Kopfschütteln oder Achselzucken auf den Patienten als bedeutsamer Hinweis. Aber auch hinter der Couch wirken unsere “Hm-Hmms” ebenso wie unser Schweigen, das Interesse oder Desinteresse, das sich in unserem Tonfall widerspiegelt, oder unsere Positionsverlagerungen wie subtile Funksignale, die die Antworten des Patienten beeinflussen (...). Im Endeffekt tendieren Patienten jeder psychoanalytischen Schule in Abhängigkeit vom Standpunkt des Psychoanalytikers dazu, bei freier Assoziation ‘genau die Art phänomenologischer Daten zur Sprache zu bringen, die die Theorien und Deutungen ihrer Analytiker bestätigen! So neigt jede Theorie zur Selbstbestätigung’” (Judd Marmor, zitiert in Grünbaum, A. [1984]. The Foundations of Psychoanalysis. A Philosophical Critique. S. 211).

Grünbaum (1984) greift diese Kritik an der psychoanalytischen Forschungsmethode auf und beantwortet die Frage, ob Freuds Therapiesitzungen mit seinen Patientinnen und Patienten ausreichen, um seinen psychoanalytischen Theorien den Status “wissenschaftlich” zu verleihen, mit:

    Rechtfertigen seine [d.h. Freuds] klinischen Argumente die Erkenntnisansprüche, die er für seine entstehende Theorie erhob, indem er sie als ‘wissenschaftlich’ bezeichnete? Meine Antwort ist zweifach. Die Argumentation, auf die Freud die Hauptthesen seines Werkes stützte, war im wesentlichen fehlerhaft, auch wenn die Redlichkeit der von ihm angeführten klinischen Beobachtungen nicht in Frage stünde. Darüber hinaus sind klinische Daten aus der psychoanalytischen Behandlungssitzung selbst epistemisch ziemlich fragwürdig, geschweige denn, daß man sie für bare Münze nehmen kann .”

Daher folgert er

    “Angesichts meiner Darstellung der epistemischen Mängel, die der psychoanalytischen Methode eigen sind, scheint es so, daß die Bestätigung der Haupthypothesen Freuds, wenn überhaupt, in erster Linie über gut geplante extraklinische Untersuchungen entweder epistemologisch oder auch experimentell erfolgen muß”,

wobei Grünbaum (1984) sich über die bisherigen empirisch-objektiven Überprüfungen der Freudschen Theorien folgendermaßen äußert:

    “Selbst wenn die bislang gewonnenen experimentellen Daten nützlich waren, so haben sie es doch nicht vermocht, irgendeine der wesentlichen Hypothesen Freuds zu stützen, deren klinische Beglaubigung ich als unzureichend kritisiert habe”

und damit die weitgehend ausgebliebenen empirischen Bestätigungen der psychoanalytischen Theorien unterstreicht (siehe II. Die psychoanalytischen Theorien sind falsch ).

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Psychoanalyse und Psychologie

Die Psychoanalyse ist entgegen eines weit verbreiteten Irrtums nicht mit der wissenschaftlichen Psychologie gleichzusetzen und stellt auch keine ihrer Teildisziplinen dar. Sie hat sich vielmehr weitgehend unabhängig von ihr entwickelt und bis auf in einigen Fächern der Psychologie wie der Persönlichkeitspsychologie und der Entwicklungspsychologie nur einen verschwindenden Einfluß auf sie ausgeübt.

Aus diesen Gründen faßt Städtler (2003) den Gegensatz zwischen der populären Meinung und den gegenwärtig tatsächlich vorherrschenden Verhältnis folgendermaßen zusammen:

“Es gehört zu den groteskesten Fehlinterpretationen der Psychologie, Psychologie mit der Psychoanalyse gleichzusetzen, wie es auch innerhalb der gebildeten Öffentlichkeit häufig der Fall ist. Tatsächlich gibt es kaum ein Gebiet, das dem Geist akademischer Psychologie konträrer ist als die Psychoanalyse. Die Psychoanalyse steht in einer außerakademischen Tradition und besitzt innerhalb der Psychologie nur eine Art Inseldasein. Wenn sie auch eine permanente Herausforderung für die Psychologie dargestellt hat, so ist sie doch niemals integriert worden und es hat im grunde kein Gebiet gegeben, auf dem die Auseinandersetzung zwischen Psychoanalye und akademischer Psychologie wirklich zu einem eigenen Paradigma geführt hat, vielleicht mit Ausnahme des Themas Wahrnehmungsabwehr” (Städtler, 2003, S. 1274).

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Modifikationen der klassischen Psychoanalyse

Überblick

Alfred Adler und die Individualpsychologie

C. G. Jung und die Analytische Psychologie

 

Überblick

Freuds Schüler haben schon zu seinen Lebzeiten versucht, Veränderungen an den Theorien ihres Lehrers vorzunehmen, was zu Konflikten und schließlich zum Bruch mit Freud führte. Als erster seiner bedeutenden Schüler verließ Alfred Adler 1911 die Wiener Psychoanalytische Vereinigung, deren Präsident er bis dahin gewesen war, und begründete die Individualpsychologie. 1914 folgte der bis dahin von Freud als “Kronprinz” gehandelte Carl Gustav Jung, indem er als Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung aufgrund unüberbrückbarer Differenzen zu Freud zurücktrat. Er entwickelte daraufhin die Analytische Psychologie. Auch in späteren Jahren trennten sich langjährige Weggefährten von Freud, weil sie Theorien entwickelten, die der “Meister” nicht neben seinen eigenen duldete: 1926 traf das Schicksal den langjährigen Sekretär der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, Otto Rank, 1933/34 wurde der Freud-Schüler Wilhelm Reich aus der psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen.

Eine ganze Gruppe von Analytikern wandte sich ab den 30er Jahren von Freuds starker Betonung der Libido als Hauptfaktor zur Erklärung der Vorgänge im “Seelenleben” ab und ersetzte sie durch eine Sozialisations- und Gesellschaftstheorie. Dieser als Neopsychoanalyse bezeichneten Richtung gehörten u.a. Harald Schultz-Henke, Karen Horney, Erich Fromm und Harry Stack Sullivan an.

Nach Freuds Tod 1939 kam es zu weiteren auseinanderstrebenden Entwicklungen innerhalb der Psychoanalyse, da Freuds Tochter Anna nicht über die Autorität ihres Vaters verfügte, um eine einheitliche Entwicklung zu gewährleisten. Sie war mit Freud und einem Teil der Freudianer 1938 nach Großbritannien übersiedelt und geriet dort in Gegensatz zu der dort seit 1926 arbeitenden Melanie Klein, der Begründerin der Kleinianischen Schule. Zwischen ihnen stand die Gruppe um den damaligen Präsidenten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung und Freud-Biographen, Ernest Jones, die anfänglich eine vermittelnde Position einnahm.

In den USA war die Situation dagegen eine andere. Die Internationale Psychoanalytische Vereinigung hatte zu der Zeit, als Sigmund und Anna Freud nach London emigrierten, die Kontrolle über die Amerikanische Psychoanalytische Vereinigung verloren, die nur Ärzten die Ausübung der Psychoanalyse erlaubte. Die Trennung der Analytiker in den beiden angelsächsischen Ländern trug mit dazu bei, daß in den USA eine andere Entwicklung der psychoanalytischen Theorien als in Großbritannien stattfinden konnte. Diese wurde stark durch die Ideen des 1939 in die USA emigrierten Freudianers Heinz Hartmann beeinflußt, der zusammen mit Kris und Loewenstein die in den 60er und 70er Jahren in den USA dominierende psychoanalytische Richtung der Ich-Psychologie entwickelte, welche die Freudsche Betonung des Es aufgab und sich stark den Vorgängen im Ich widmete. Dieser Richtung schloß sich Anna Freud, die ähnliche theoretische Ansichten entwickelt hatte, nach dem Zweiten Weltkrieg an. Aus Opposition zur Ich-Psychologie ging dann in den 70er Jahren die Selbst-Psychologie Heinz Kohuts hervor, in der die Instanz des “Ich” durch das Konzept des Selbst ersetzt wurde. Daneben bildete sich eine zweite wichtige psychoanalytische Strömung der Objektbeziehungstheorie, deren Hauptvertreter Otto Kernberg ist.

zu Modifikationen der klassischen Psychoanalyse

 

Alfred Adler und die Individualpsychologie

Alfred Adler war wie Freud Arzt in Wien und einer seiner bedeutendsten frühen Anhänger. Er wurde von Freud als einer der ersten zu den Diskussionsabenden eingeladen, aus denen später die Wiener Psychoanalytische Vereinigung hervorging und deren Obmann Adler 1910 schließlich wurde. Adler entwickelte jedoch im Laufe der Zeit eigene Ideen, die mehr und mehr von denen Freuds abwichen. 1911 kam es deswegen zum Bruch mit Freud und Adlers Austritt aus der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung zusammen mit einigen anderen Mitgliedern, die seine Auffassungen teilten. Eine der grundlegenden Ansichten Adlers ist es, daß die Seele des Menschen nicht in mehrere Instanzen wie z.B. das Ich oder das Es aufgeteilt zu werden braucht. Stattdessen wird der Mensch als unteilbares Ganzes betrachtet. Um diesen Aspekt seiner Theorie zu verdeutlichen, wählte Adler die Bezeichung Individualpsychologie - die Psychologie des Individuums.

Adler sah - anders als Freud - nicht die Sexualenergie als primäre Quelle für menschliches Verhalten an, sondern den Willen zur Macht. Er begründet diese Annahme mit Überlegungen zu Patienten aus seiner ärztlichen Praxis und verallgemeinert sie zu einer Theorie der menschlichen Entwicklung. Aus den Erfahrungen in seiner Praxis stammt die Beobachtung, daß Menschen mit kranken oder nicht richtig funktionierenden Organen (Organminderwertigkeit) versuchen, die ihnen dadurch auf anderen Gebieten entstehendenUnzulänglichkeiten auszugleichen (Kompensation). In anderen Fällen verwenden Menschen viel Energie darauf, eine körperliche Schwäche in eine besondere Leistung umzuwandeln (Überkompensation). Von diesen Vorstellungen ausgehend verallgemeinerte Adler, daß alle Menschen Minderwertigkeitsgefühle haben, aber nicht deswegen, weil alle irgendwelche körperlichen Schwächen haben, sondern weil alle in der Kindheit jeden Tag erlebt hätten, wie abhängig sie von den Erwachsenen seien. Diese Minderwertigkeit ist also keine körperliche, sondern eine psychische. Um die Minderwertigkeitsgefühle zu bewältigen und sich nicht mehr abhängig zu fühlen, streben alle Menschen nach Macht (Wille zur Macht). Aus diesem Grund sah Adler nicht die Sexualenergie als grundlegend für menschliches Verhalten an, sondern den Willen zur Macht.

Die aus der Kindheit stammenden Minderwertigkeitsgefühle können Adler zufolge in einer positiven und einer negativen Weise bewältigt werden. Eine positive Bewältigung - Adler nennt sie Anpassung - liegt vor, wenn die Erziehung durch die Mutter das Kind schrittweise, unterstützend und behutsam auf das Leben in der Gesellschaft vorbereitet. Dann wird das Kind nach Adlers Theorie ein Motiv entwickeln, andere nicht (nur) als Konkurrenten zu erleben und sie überwinden zu wollen, sondern etwas für andere tun zu wollen. Adler spricht vom Gemeinschaftsgefühl. Bei der negativen Bewältigung (fehlangepaßt) ist das Gemeinschaftsgefühl nicht stark genug entwickelt, um den Willen zur Macht auszugleichen. Die Menschen handeln dann vor allem egoistisch und sehen andere überwiegend als Objekte, die ihnen gegenüber feindlich eingestellt sind. Fehlanpassungen entwickeln sich Adler zufolge, wenn die Eltern-Kind-Beziehungen bestimmte Formen annehmen:

  • Verwöhnung des Kindes
    • Eltern können ihre Kinder zu stark behüten, indem sie versuchen, sie vor allen Gefahren zu schützen (Behütung)
    • Sie können ihrem Willen zu sehr nachgeben und ihnen alle Wünsche erfüllen.
    • Sie können ihnen keine Selbständigkeit zugestehen und alle Entscheidungen abnehmen (Beherrschung).
  • Ablehnung des Kindes
    • Die Partnerschaft der Eltern ist unglücklich.
    • Die Eltern meinen, zu viele Kinder zu haben.
    • Das Kind ist krank oder behindert.

Beides, Verwöhnung und Ablehnung, sind Adler zufolge unangemessene Eltern-Kind-Beziehungen, die zu einer Fehlanpassung des Kindes an seine Umwelt führen und Symptome psychischer Störungen hervorrufen können. Neben den Eltern-Kind-Beziehungen spielen für Adler auch die Beziehungen unter den Geschwistern und die Geschwisterposition eine wichtige Rolle:

  • Einzelkinder würden oft von den Eltern verwöhnt.
  • Die Erstgeborenen würden häufig zuerst überschwenglich geliebt, nach der Geburt von Geschwistern aber starke Enttäuschungen erleben, weil sie nun nicht mehr im Mittelpunkt stünden.
  • Die Letztgeborenen würden zum einen als Nesthäkchen verwöhnt, aber zum anderen nicht richtig ernst genommen und erleben die älteren Geschwister oft als von den Eltern bevorzugte Konkurrenten.
  • Die Geschwister, die weder zuletzt noch zuerst geboren wurden, hätten für kürzere Zeit die Erlebnisse der anderen gemacht und entwickeln daher oft soziale Verhaltensweisen.

Anpassung und Fehlanpassung entsprechen unterschiedlichen Lebenstilen. Lebenstile sind Bezeichnungen dafür, wie Menschen die Welt wahrnehmen und sich in ihr verhalten. Sie stellen grundsätzliche Muster für Wahrnehmung und Verhalten dar und beeinflussen daher, wie eine Person ein Ereignis erlebt und darauf reagiert. Deshalb kann das gleiche Ereignis bei Menschen mit unterschiedlichen Lebensstilen unterschiedliche Einschätzungen und Reaktionen hervorrufen. Lebensstile bilden sich dadurch, daß Kinder in der Art der Bewältigung ihrer Minderwertigkeitsgefühle von den Eltern beeinflußt sind. Die Kinder schauen sich in den ersten 4 bis 5 Jahren von ihren Eltern deren Einstellung zu anderen Menschen ab und übernehmen sie häufig weitgehend. Wenn die Kinder auf diese Weise einen Lebenstil entwickeln, der in Einklang mit der Gesellschaft steht (daher die Bezeichnung Anpassung), führt dies Adler zufolge zu einem integrierten Lebensstil. Wenn das Kind dagegen für eine Gesellschaft unangemessene Bewältigungsversuche übernommen hat, entsteht ein neurotischer Lebensstil.

Zu den speziellen Aspekten von neurotischen Lebensstilen gehören der männliche Protest und der weibliche Protest. Beide beziehen sich auf die Geschlechterrollen von Menschen mit neurotischem Lebensstil. Adler meint, daß sich in Gesellschaften, in denen “männliche” Verhaltensweisen als erstrebenswert angesehen werden, Frauen dazu tendieren, diese nachzuahmen oder zumindest Positionen erreichen zu wollen, in denen sie über andere dominieren können (männlicher Protest). So interpretiert er z.B. die “Dummheit, Ungeschicklichkeit und Krankheit” einer Patientin als Versuch, ihre Verwandten zu dominieren, weil diese ihr alles abnehmen müßten. Der weibliche Protest entwickelt sich dagegen in Gesellschaften, in denen “weibliches” Verhalten positiv gesehen wird. Dann bestehe die Gefahr, daß Männer verweichlichen.

In der individualpsychologischen Psychotherapie wird versucht, neurotische Symptome auf ihre vermuteten Ursachen im Umgang mit Minderwertigkeitsgefühlen in der Kindheit zurückzuführen. Dazu wird der Lebensstil des Patienten identifiziert, um ihn anschließend zu verändern. Die Veränderung des Lebensstils soll über den Abbau von Minderwertigkeitsgefühlen und durch die Stärkung des Gemeinschaftsgefühls erreicht werden. Der Meta-Analyse von Smith, Glass und Miller zufolge liegt die Wirksamkeit der Adlerschen Psychotherapie nur knapp über der Wirksamkeit von Placebobehandlungen. In der Psychotherapiestudie von Grawe und Kollegen konnte eine Wirksamkeit im Persönlichkeitsbereich gefunden werden. Allerdings beruht dieser Befund einzig auf 2 unkontrollierten Untersuchungen.

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C. G. Jung und die Analytische Psychologie

Carl Gustav Jung arbeitete als Psychiater in der Nervenklinik Burghölzli in Zürich, als er mit den Ideen Freuds in Berührung kam. Sein damaliger Chefarzt war der bedeutende Psychiater und Schizophrenieforscher Eugen Bleuler. Freud und Jung standen viele Jahre in engem Briefwechsel, in dem sie ihre Vorstellungen über das “Seelenleben” des Menschen miteinander austauschten. Freud sah in Jung seinen “Kronprinzen” und Nachfolger. Er betrieb deshalb Jungs Wahl zum ersten Präsidenten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Aber wie im Falle Adlers entwickelte Jung zunehmend Ideen, die sich von denen Freuds deutlich unterscheiden. Für Jung war z.B. die Libido nicht gleich der Sexualenergie und diese nicht die wichtigste Antriebskraft menschlichen Verhaltens, eine Ansicht, die Freud nicht tolerierte. Verbunden mit einigen zwischenmenschlichen Mißverständnissen kam es zum Bruch zwischen beiden und schließlich zu Jungs Rücktritt von seiner Präsidentschaft sowie zum Austritt aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Anschließend entwickelte Jung sein eigenes, umfassendes Theoriengebäude, das in besonderem Maße Aspekte aus der Religion und der Mythologie berücksichtigte.

Jung gibt der Gesamtheit der psychischen Vorgänge im Menschen den Namen Psyche. Diesen Begriff grenzt er von dem der Seele ab: Seele bezeichnet für ihn einen Bereich der Psyche und ist nicht mit ihr identisch. Menschen können deshalb über mehrere Seelen verfügen. Die Psyche umfaßt das Bewußtsein und das Unbewußte. Das Bewußtsein definiert Jung als die Gesamtheit aller psychischen Vorgänge, die vom Ich wahrgenommen werden. Das Unbewußte verhält sich demgegenüber komplementär: Es umfaßt alle psychischen Vorgänge, die nicht vom Ich wahrgenommen werden. Jung unterteilt das Unbewußte weiter in das persönliche Unbewußte und das kollektive Unbewußte. Das persönliche Unbewußte enthält unbewußte psychische Inhalte, die im Laufe des Lebens von einem Menschen erworben worden sind. Das kollektive Unbewußte umfaßt dagegen unbewußte psychische Inhalte, die nicht im Laufe des Lebens erworben werden, sondern das Erbe früherer Generationen darstellen. Sie sind Ausdruck der genetisch determinierten Hirnstrukturen. Für Jung handelt es sich bei den kollektiv unbewußten Inhalten um Mythen und Vorstellungen, die ohne Kontakt zu anderen Menschen hervortreten können, z.B. in Träumen. Dort zeigen sie sich in oft in archaischen Symbolen, die Jung Archetypen nennt. Archetypen zeigen sich im Bewußtsein als Einstellungen und Handlungstendenzen, die nicht von den Objekten ausgehen. Jung unterscheidet mehrere Archetypen, die hier nur kurz angesprochen werden sollen:

  • in personifizierter Form
    • der Schatten: Symbolisierung des persönlichen Unbewußten, “der dunkle Bruder”, die “andere Seite” eines Menschen. Der persönliche Schatten stellt dasjenige dar, was ein Mensch an sich selbst nicht mag, der kollektive Schatten ist die andere Seite des Zeitgeists. Dem Schatten kann man in einer inneren und einer äußeren Form begegnen: Die innere Form der Begegnung geschieht durch Selbstreflexion und Selbstkritik mit der “dunklen Seite” in sich selbst. Die äußere Form der Begegnung stellt die Projektion der eigenen “dunklen” Anteile auf eine andere Person dar.
    • Seelenbild: Animus und Anima: die männliche Seite einer Frau und die weibliche Seite eines Mannes. Auch ihnen kann man in einer inneren (z.B. in Träumen) und einer äußeren Form (Menschen anderen Geschlechts, auf die jemand seine Anima oder ihren Animus projiziert) begegnen.
    • der Alte Weise und die Große Mutter (die Mana-Persönlichkeiten): Beide symbolisieren sehr wirkungsvolle Prinzipien (Mana). Der Alte Weise steht für das Geistige, die Große Mutter für das Stoffliche, Erdgebundene und wird daher auch als chthonische Mutter (Erdmutter) bezeichnet.
    • das Selbst: die Symbolisierung der Vereinigung von bewußten und unbewußten psychischen Vorgängen zum großen Ganzen.
  • als Elemente und Figuren: z.B. das Wasser als Symbol des Lebens, der Baum als Symbol der Welt, der Vogel als Symbol des Geistigen, die Schlange als Symbol der Veränderung, der Heilung oder des Bösens
  • als Ereignisse: z.B. Geburt und Tod als Symbole der Veränderung, der Drachenkampf als Symbol für Konflikte mit bösen Mächten, die Hochzeit als Symbol für Vereinigung und die Erweiterung des Individuums.

Für Jung beeinflussen die Archetypen die psychische Entwicklung maßgeblich. Diese Entwicklung nennt er Individuation und versteht darunter die Entwicklung zu einer vom Kollektiv abgegrenzten Persönlichkeit. Während der Individuation löst sich der Mensch von dem, was er sich und anderen erscheint (Persona), und wird er selbst. Dabei sind Begegnungen mit den Archetypen von entscheidender Bedeutung. Die Begegnung mit den personifizierten Archetypen findet in der Reihenfolge statt, in der diese Archetypen oben aufgezählt wurden. Zum Schluß symbolisiert die Begegnung mit dem Archetypus des Selbst die Verwirklichung der Individuation.

Die Individuation verläuft nach Jung in zwei Phasen:

  • In der ersten Lebenshälfte stellt sich dem Menschen die Aufgabe, seinen Platz in der äußeren Welt einzunehmen. Es entstehen das Ich und die Persona. Jung nimmt an, daß sich in dieser Zeit vier psychische Vorgänge bilden, die er als Grundfunktionen ansieht: Denken, Intuieren, Fühlen, Empfinden. Er meint, daß sie auf zwei verschiedene Arten auftreten können: als Introversion und als Extraversion. Darunter versteht er die grundsätzliche Einstellung des Menschen zu Objekten seiner Umwelt: Der Extravertierte geht überwiegend auf die Objekte zu und richtet Lebensenergie (Libido - für Jung nicht gleich Sexualenergie), der Introvertierte wendet sich überwiegend von ihnen ab und versucht, möglichst viel Libido im Ich zu sammeln.
  • In der zweiten Lebenshälfte besteht die Hauptaufgabe in der Begegnung mit der inneren Welt, in der Vergrößerung von Menschen- und Selbstkenntnis, in der Bewußtwerdung von unbewußten Eigenschaften.

Psychische Störungen entstehen Jung zufolge durch Störungen der Individuation. Dies kann z.B. dadurch geschehen, daß eine der Grundfunktionen, die bei einem Menschen dem Unbewußten angehört, ins Bewußtsein drängt. Oder es hat sich eine Formation aus psychischen Inhalten gebildet, der vom Ich weitgehend autonom (und damit unbewußt) ist und deren Aktivierung zu heftigen Reaktionen des Menschen führen. Jung nennt eine solche Formation einen Komplex. Beispiele für Komplexe sind Vater- und Mutterkomplex oder ein Machtkomplex. Die Aufgabe der Jungschen Psychotherapie besteht darin, den Patienten im Individuationsprozeß weiter voranschreiten zu helfen. Der Therapeut ist diesem Verständnis zufolge Begleiter und Helfer auf dem Weg zur Selbstwerdung. Da während der Individuation die Begegnungen mit Archetypen entscheidend sind, unterstützt der Jungsche Therapeut den Patienten bei den Begegnungen und hilft ihm, sie zu verstehen. Dabei spielt die Traumdeutung eine wichtige Rolle. Träume dienen Jung zufolge nicht der Wunscherfüllung, sondern veranschaulichen unbewußte psychische Vorgänge auf dem Weg zur Individuation. Jung betonte, daß das Unbewußte den Weg in die Zukunft weisen könne. Eine Aufgabe ist es, verstehen zu lernen, was die Archetypen einem sagen wollen. Dazu muß man sie erkennen können. Jung stellte eine Reihe von Figuren zusammen, als welche Archetypen in Träumen, Erzählungen und Sagen auftauchen können:

Archetypus

Figuren

Persona und Schatten

Goldmarie (Persona) und Pechmarie (Schatten)

Seelenbild: Anima

Eva, Amazone, Geisha, Madonna

Seelenbild: Animus

Vater, Richter, Arzt, Mönch, Ritter

Der Alte Weise

Zauberer, Orpheus, Luzifer, Einsiedler, Zwerg, Riese

Die Große Mutter

Ahnfrau, Amme, Stiefmutter, Schwiegermutter, Großmutter, Hexe

das Selbst

göttliches Kind, kostbare Perle, Edelstein, Goldstück, blaue Blume

Für die Wirksamkeit der Psychotherapie nach C.G. Jung gab es bis Mitte der 80er Jahre keine kontrollierten Untersuchungen, so daß diese Therapiemethode nicht in der großen Therapiestudie von Grawe und Kollegen überprüft werden konnte.

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Literaturhinweise

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